Was ist Klärungsorientierte Psychotherapie?
Rainer Sachse, Janine Breil, Jana Fasbender, Oliver Püschel und Meike Sachse:
2.1 Definition
Klärungsorientierte Psychotherapie (KOP) ist eine psychologisch sehr gut fundierte, empirisch hochgradig validierte Psychotherapieform, die zwei Hauptaufgaben verfolgt.
Eine Hauptaufgabe bezieht sich auf Klärung: Auf der Basis einer vom Therapeuten aktiv hergestellten vertrauensvollen Therapeut-Klient-Beziehung werden zum einen aktuelle Motive des Klienten, zu denen dieser im Augenblick keinen Zugang hat, geklärt und damit der Zustand der Alienation aufgehoben; zum anderen gilt es bei Klärung, dysfunktionale, d.h. problem-(mit-)determinierende Schemata eines Klienten zu klären, zu repräsentieren.
In der zweiten Hauptaufgabe der KOP werden diese geklärten Schemata dann therapeutisch bearbeitet und verändert, sodass der Klient im Alltag konstruktiver und flexibler handeln kann, weniger oder keine störenden „Symptome“ mehr aufweist, Alltagssituationen kognitiv und affektiv besser verarbeiten kann und selbstregulativer und zufriedener leben kann.
2.2 Ziele der Klärungsorientierten Psychotherapie
Hauptziel der KOP ist die (Wieder-)Herstellung einer funktionalen Selbstregulation (Baumann & Kuhl, 2005): Der Klient soll in der Lage sein, einen Zugang zu seinen Motiven zu haben, Situationen angemessen zu verarbeiten, Entscheidungen zu treffen, die sowohl realitätsangemessen als auch motivkompatibel sind. Weiterhin soll er diese Verarbeitungen und Entscheidungen ohne Störungen durch dysfunktionale Schemata, Symptome und unangemessene Handlungskosten treffen und durchführen können.
Um einen solchen Zustand der Selbstregulation herzustellen, kann es nötig sein, mit dem Klienten
- zunächst an einer angemessenen Definition des Problems zu arbeiten;
- einen Zugang zum Motiv- und Bedürfnis-System zu schaffen;
- dysfunktionale Schemata zu identifizieren, zu klären und zu repräsentieren sowie zu bearbeiten und zu verändern;
- Konflikte zu klären und zu bearbeiten;
- Ressourcen zu aktivieren oder (z.B. durch Training) zu schaffen;
- Symptome zu reduzieren, zu beseitigen oder zumindest unter Kontrolle zu bekommen.
2.3 Teilbereiche der Klärungsorientierten Psychotherapie
Entsprechend der verschiedenen Ziele setzt sich die KOP aus mehreren Teilbereichen zusammen, die unterschiedliche Aufgaben an den Therapeuten stellen und damit in verschiedenen Bereichen Expertise vom Therapeuten fordern.
2.3.1 Beziehungsgestaltung
Ein Expertise-Bereich der KOP bezieht sich auf Vorgehensweisen des Therapeuten zu einer aktiven, gezielten Beziehungsgestaltung. Dabei kann ein Therapeut Strategien der
„Allgemeinen Beziehungsgestaltung“ oder Strategien der „Komplementären Beziehungsgestaltung“ realisieren. Der Therapeut baut durch diese Strategien eine vertrauensvolle Therapeut-Klient-Beziehung auf, die die Grundlage ist für alle weiteren Klärungs- und Bearbeitungsprozesse (Sachse, 1995a, 1999a, 2006b).
2.3.2 Strategien zur Ermöglichung von Klärung
Bei manchen Klienten können Klärungsprozesse nicht gleich zu Therapiebeginn einsetzen: Vielmehr müssen erst Voraussetzungen für Klärungsprozesse geschaffen werden, d.h. der Therapeut muss erst Strategien verwenden, durch die solche Voraussetzungen geschaffen werden und Klärung erst ermöglicht wird. Klienten mit bestimmten Störungen weisen nämlich im Therapieprozess ein stark dysfunktionales Bearbeitungs- oder Beziehungsverhalten auf, das eine effektive Klärung dysfunktionaler Schemata unmöglich macht. So weisen Klienten mit psychosomatischen Störungen ein hohes bis extrem hohes Ausmaß an kognitiver Vermeidung auf: Sie beschäftigen sich gezielt nicht mit Problemen oder Problem- Aspekten und weichen entsprechenden Interventionen des Therapeuten aus. Dadurch ist es aber nicht möglich, dysfunktionale Schemata zu aktivieren oder zu klären (vgl. Sachse, 1994b, 1995a, 1995b, 1997, 1998, 1999a, 2006b). Die KOP hat nun spezielle Strategien konzipiert, wie Therapeuten mit starkem Vermeidungsverhalten von Klienten umgehen: Diese Strategien der „Bearbeitung der Bearbeitung“ sind in der Lage, die Vermeidungen der Klienten effektiv zu reduzieren, sodass eine konstruktive inhaltliche Arbeit möglich wird (Sachse, 1995a, 1999a, 2006b). Klienten mit spezifischen Persönlichkeitsstörungen bringen dysfunktionale Interaktionsmuster (sog. „Interaktionsspiele“) in die Therapie ein, wodurch sie versuchen, den Therapeuten dahin zu bringen, ihr dysfunktionales System zu stabilisieren und abzusichern (manipulatives Verhalten); an einer Veränderung ihrer Schemata oder Handlungsstrategien sind die Klienten zunächst nicht interessiert, ihnen ist gar nicht bewusst, dass sie Teil des Problems sind („ich- syntone Störung“; vgl. Sachse, 1999b, 2000a, 2001a, 2001b, 2002, 2004a, 2004b, 2005a, 2006c, 2006d). Die „Interaktionsspiele“ wurden von den Klienten in der Biographie als Notlösung und einzige Möglichkeit gelernt, primäre Bedürfnisse befriedigt zu bekommen. Im Erwachsenenalter sind sie oft hochautomatisiert, dysfunktional und bereiten den Klienten häufig große Schwierigkeiten in sozialen Beziehungen, werden von den Klienten aber nicht als problemdeterminierend erkannt. In der Therapie ist es daher von großer Wichtigkeit, dass dem Klienten genau dies deutlich wird. Die KOP hat auch Strategien entwickelt, um mit dem dysfunktionalen Interaktionsverhalten persönlichkeitsgestörter Klienten effektiv umzugehen: Therapeuten bearbeiten durch komplementäre Beziehungsgestaltung und einem adäquaten Umgang mit Images und Appellen einerseits und durch gezielte konfrontative Strategien andererseits die manipulativen Interaktionsstrategien der Klienten, sodass die Klienten diese als dysfunktional erkennen und eine Änderungsmotivation im Hinblick auf ihre Schemata entwickeln (Sachse, 1999b, 2001a, 2001b, 2002, 2004a, 2004b, 2005a, 2006c, 2006d).
2.3.3 Klärung
Auch zur Klärung von Schemata und Motiven sind spezielle Techniken notwendig. Die KOP hat hoch effektive therapeutische Vorgehensweisen entwickelt mit deren Hilfe Therapeuten bei Klienten effektive Klärungsprozesse initiieren und steuern können. Mit Hilfe dieser Strategien gelingt es Klienten, ihre dysfunktionalen Schemata valide zu repräsentieren und sie so bearbeitbar zu machen (Sachse, 1992, 1996a, 2003a, 2003b, 2005b, 2006e, 2008).
Mit Hilfe spezieller Strategien gelingt es Klienten auch, ihre Motive und Bedürfnisse zu repräsentieren und damit als Grundlage von Entscheidungen zu nutzen (Sachse, 2005b,
2006b, 2006e). Klärung ist damit eine Hauptaufgabe im Therapieprozess und eine Kernkompetenz Klärungsorientierter Psychotherapeuten.
2.3.4 Bearbeitung von Schemata
In der Regel ändern sich Schemata, wenn sie repräsentiert sind, nicht von selbst, sondern sie müssen im Therapieprozess aktiv bearbeitet werden: Sie müssen hinterfragt, geprüft, widerlegt werden, es müssen zu den Schemata kognitive und affektive Alternativen entwickelt werden; außerdem müssen Klienten speziell motiviert werden, gegen ihre dysfunktionalen Schemata anzugehen und alternative Schemata zu entwickeln.
In der KOP wurde eine spezielle Rahmentechnik zur Bearbeitung von Schemata entwickelt, das Ein-Personen-Rollenspiel (EPR). Das EPR ist kein rein kognitives Verfahren, sondern es nutzt Strategien der Schema-Aktivierung, der Klärung, der kognitiven Umstrukturierung, der affektive Umstrukturierung, des „Working with Emotions“ von Greenberg (Greenberg, 2004; Greenberg & v. Balen, 1998; Greenberg et al., 1993; Watson, Greenberg & Lietaer, 1998), der Ressourcen-Aktivierung und der Motivierung (Sachse, 1983, 2000b, 2003a, 2006b, 2006c, 2006f; Sachse, Püschel, Fasbender & Breil, 2008).
Das EPR ist eine Zwei-Stuhl-Technik, bei der der Therapeut den Klienten anleitet, sein eigener Therapeut zu sein. Das EPR wird günstigerweise eingesetzt, wenn ein dysfunktionales Schema bereits weitgehend geklärt ist. Entsprechend geht dem EPR in der Regel ein Klärungsprozess voraus. Klient und Therapeut definieren ein Problem, das zugrunde liegende Schema wird aktiviert und geklärt. Das dysfunktionale Schema ist jetzt in Form einer Annahme explizit repräsentiert. Struktur und der Ablauf des EPR sehen dann wie folgt aus: Der Therapeut zieht einen dritten Stuhl heran, stellt ihn dem Klienten frontal gegenüber, so dass der Klient auf den leeren Stuhl blickt. Der Therapeut bittet ihn nun, die Position zu wechseln und sich auf den dritten Stuhl zu setzen. Sitzt der Klient auf der neuen Position, gibt der Therapeut folgende Instruktion: „Sie sind jetzt ihr eigener Therapeut und Sie sind völlig anderer Meinung als Ihr Klient. Ihre Aufgabe hier ist es, etwas zu finden, was Ihrem Klienten hilft. Ich bin Ihr Supervisor, wir können Möglichkeiten zusammen diskutieren und ich werde Ihnen helfen. Ihr Klient sagt: ... (dysfunktionale Annahme wiederholen)......................................................... Was könnte ihm helfen?“ Der Klient-Therapeut und der Therapeut-Supervisor diskutieren jetzt mögliche Gegenargumente und -strategien und einigen sich auf ein Argument. Dieses sagt der Klient- Therapeut jetzt laut zu dem leeren Stuhl des Klient-Klienten. Im Anschluss bittet der Therapeut-Supervisor den Klient-Therapeuten den Stuhl wieder zu wechseln.
Sitzt der Klient wieder auf der Klienten-Position, sagt der Therapeut: „Sie sind jetzt wieder Klient. Ihr Therapeut sagt: ... (Gegenstrategie des Therapeut-Klienten wiederholen) Lassen
Sie das mal auf sich wirken.“ Dann klären Therapeut und Klient, was den Klienten (bzw. sein Schema) von dem Gegenargument überzeugt. Wenn dies ausführlich getan wurde, klärt der Therapeut mit dem Klienten, was diesen noch nicht überzeugt. Hierdurch wird eine neue Schemaannahme bzw. ein neuer Schemaaspekt formuliert / expliziert und der Therapeut fordert den Klienten erneut auf, auf die Klient-Therapeuten-Position zu wechseln, sich zu distanzieren und eine Gegenstrategie zu entwickeln.
Die entwickelte Gegenstrategie kann einen von drei Inhaltsbereichen betreffen.
Der erste Bereich betrifft die kognitiven Schemaanteile, die mittels kognitiver Strategien disputiert werden. Zudem wird ein neues, funktionales Schema mit realitätsangemessenen Alternativannahmen etabliert. Die kognitiven Disputationstechniken werden in der Regel zu Beginn des EPR eingesetzt. Ist der Klient inhaltlich, logisch davon überzeugt, dass die Schemaannahmen nicht stimmen, müssen die affektiven Schemaanteile (zweiter Bereich) durch affektive Strategien bearbeitet werden. Hierzu ist es wichtig den negativen Affekt auf der Klienten-Position zu aktivieren und einen positiven Gegenaffekt auf der Therapeuten- Position zu evozieren. An dieser Stelle spielt Ressourcenaktivierung eine entscheidende Rolle. Der dritte Bereich bezieht sich auf die Motivierung des Klienten, seine dysfunktionalen Schemata aktiv anzugehen, indem Kosten salient gemacht werden und der Klient-Therapeuten gegen sein Schema aufgehetzt, d.h. wütend gemacht wird. Die motivationalen Strategien können an unterschiedlichen Stellen des Prozesses eingesetzt werden.
2.4 Eine Hauptaufgabe in der Klärungsorientierten Psychotherapie: Der Klärungsprozess des Klienten
2.4.1 Wozu dient der Klärungsprozess?
Der Klärungsprozess dient einerseits der Aufhebung von Alienation, also dem wieder- zugänglich-machen eigener Motive und Bedürfnisse, andererseits – und vor allem – dazu, dysfunktionale Schemata zu repräsentieren. Ein wesentliches Ziel des Klärungsprozesses ist es somit solche Schemata, die Probleme des Klienten (mit-)determinieren, die zu ungünstigen Verarbeitungen, Affekten, Emotionen oder Handlungen des Klienten führen und dem Klienten so „Kosten“ verursachen, zu klären, also valide kognitive Repräsentationen dieser Schemata zu schaffen. Dysfunktionale Schemata enthalten kognitive und affektive Elemente, sie werden meist automatisch aktiviert und sie beeinflussen exekutive Funktionen (Sachse, 1992, 2003): Die Informationsverarbeitung des Klienten, die affektive und emotionale Regulation und die Handlungsregulation. Sehr oft tun sie das, ohne dass sie den Klienten bewusst sind. Die Klienten können die wirksamen Schemata nicht beschreiben und verstehen sie nicht; die Schemata sind nicht kognitiv repräsentiert oder kognitiv identifiziert. Sind die Schemata aber nicht kognitiv repräsentiert und nicht kognitiv identifiziert, dann können sie auch nicht therapeutisch bearbeitet werden. Weder Klient noch Therapeut verstehen die relevanten Schemata; damit ist nicht klar, woran überhaupt therapeutisch angesetzt werden soll. „Klärung ergibt sich aber auch nicht von selbst“. Vielmehr zeigen empirische Analysen (vgl. Kapitel 13 in diesem Band), dass Klärungsprozesse sehr schwierig sind, spezielle therapeutische Vorgehensweisen benötigen und zeitaufwendig sind. Der Klärungsprozess zielt nun darauf, diese „internalen Determinanten des Problems“, die dysfunktionalen Schemata, valide kognitiv zu repräsentieren. Durch diesen Klärungsprozess wird klar, was inhaltlich „in den Schemata steht“, welche Annahmen, Kontingenzannahmen, Bewertungen das Schema tatsächlich enthält (oder der Klärungsprozess führt dazu, ein affektives Schema zu identifizieren und seine Funktion zu bestimmen). Und damit kann nun therapeutisch gezielt an diesen Annahmen usw. gearbeitet werden. Jetzt ist es möglich, sie im Ein-Personen-Rollenspiel zu hinterfragen, zu prüfen und tragfähige Alternativen dazu zu entwickeln.
Psychologisch gesehen ist der Klärungsprozess somit ein Prozess, durch den ein valides Modell über das relevante Schema aufgebaut wird, das als Grundlage weiterer therapeutischer Bearbeitung dienen kann (Sachse, 1992, 2003).
2.4.2 Wie verläuft ein Klärungsprozess?
Ganz allgemein kann man sagen, dass ein Klärungsprozess ähnlich verläuft, wie ein wissenschaftlicher Forschungsprozess: Man definiert eine Problemstellung und von dort aus definiert man eine Fragestellung. Diese Fragestellung führt dazu, dass man Erkenntnisse gewinnt, die einen augenblicklichen Erkenntnisstand definieren. Dieser Erkenntnisstand muss gut belegbar, er muss validiert sein. Von diesem validen Erkenntnisstand ausgehend definiert man eine weiterführende, in der Regel vertiefende Fragestellung, die dann zu einem neuen Erkenntnisstand führt. Und dies tut man so lange, bis der Erkenntnisstand, den man erreicht hat, das Ausgangsproblem hinreichend erklären kann: Man weiß, wie das Problem funktioniert, man kann es hinreichend verstehen. Diese „hinreichende Erklärung“ wird dann durch ein herausgearbeitetes Schema bereitgestellt, das nun als Basis weiterer therapeutischer Bearbeitungs-(Veränderungs-)Prozesse dienen kann.
In der Therapie beginnt man mit einem „Problem“ des Klienten: Es ist daher nötig, zunächst eine psychologisch sinnvolle Problemdefinition zu erarbeiten. Der nächste Schritt ist, dass man verstehen will, wie das Problem „psychologisch funktioniert“: Auf welche Verarbeitungsprozesse geht das Problem zurück und auf welche Schemata gehen die Verarbeitungsprozesse zurück? Dies ist die Frage, die man letztlich beantworten will.
Um dies zu können, definiert man zunächst das Problem des Klienten so präzise wie möglich: Das Problem ist zum Beispiel ein bestimmtes Verhalten in einer bestimmten Situation, das bestimmte Kosten aufwirft, die der Klient nicht will, d.h. die gegen Motive, Werte, Ziele des Klienten „verstoßen“. Da man davon ausgeht, dass diese Situation das dysfunktionale Schema „triggert“, entwickelt man die erste Fragestellung: „Was löst diese Situation beim Klienten an Kognitionen, Affekten, Emotionen und/oder Handlungsimpulsen aus?“ Folgt man der Frage, dann werden entsprechende Kognitionen, Affekte, Emotionen oder Handlungsimpulse deutlich. Damit hat man einen neuen Erkenntnisstand gewonnen, den man mit dem Klienten validieren muss. Ist dieser Erkenntnisstand validiert, dann benutzt man ihn als Ausgangspunkt für eine weiterführende Fragestellung. Folgt man dieser, dann werden neue „Daten“ sichtbar, die einen neuen Erkenntnisstand definieren, der, ist er validiert, den Ausgangspunkt bildet für eine neue Fragestellung.
Und dieses Verfahren führt man weiter bis ein Erkenntnisstand als hinreichende psychologische Erklärung für das Problem des Klienten gelten kann: Dann hat man das Schema identifiziert, das als Erklärung für das problematische Denken, Fühlen und Handeln des Klienten angesehen werden kann.
Dieses Schema kann dann als Basis für eine weitere therapeutische Bearbeitung dienen, da man davon ausgehen kann, dass sich das Problem grundlegend verändert, wenn man das Schema verändert.
2.4.3 Welche psychologischen Zustände muss der Klient einnehmen und welche Prozesse muss der Klient durchlaufen, damit ein konstruktiver Klärungsprozess stattfinden kann?
Zunächst einmal setzt ein funktionierender Klärungsprozess voraus, dass ein Klient bereit ist, sich mit problematischen eigenen Inhalten auseinander zusetzen: Er darf nicht stark eine solche Auseinandersetzung vermeiden, ansonsten stagniert der Klärungsprozess. Ein gewisses Ausmaß an Vermeidung wird bei negativen Inhalten immer stattfinden; dies muss aber therapeutisch „handhabbar“ sein, damit ein Klärungsprozess voranschreiten kann. Liegt, wie oft bei psychosomatischen Klienten, ein extrem hohes Ausmaß an Vermeidung vor, dann muss diese zunächst durch spezielle therapeutische Strategien, der sogenannten „Bearbeitung der Bearbeitung“ reduziert werden, damit die Voraussetzung für einen konstruktiven Klärungsprozess geschaffen werden kann (vgl. Sachse, 2006b).
Da die Prozesse schwierig sind, muss der Klient auch bereit und in der Lage sein, seine Aufmerksamkeit auf die Aufgabe zu fokalisieren: Er muss alle Ressourcen bündeln, sich voll auf die Klärungsaufgabe konzentrieren, um eine Repräsentation leisten zu können.
Der Klient muss seine Perspektive internalisieren und über längere Zeit internal halten: Er muss sich damit beschäftigen, was er (in Problemsituationen) denkt, fühlt, will; er muss Interpretationen nachgehen, Affekten nachspüren, sich fragen, was er eigentlich will usw. All dies kann er aber nur dann, wenn er seine Aufmerksamkeit auf eigene Verarbeitungsprozesse, auf internal ablaufende Prozesse lenkt.
Der Klient muss einer Fragestellung folgen: Diese wird meist vom Therapeuten vorgeschlagen, aber der Klient muss sie übernehmen. Er muss wissen, was er wissen will, er muss wissen, wonach er sucht, welchen „Spuren“ er folgen muss, um im Erkenntnisprozess voran zu schreiten.
Der Klient muss bereit sein, den Interventionen des Therapeuten zu folgen: Er muss sich in seinem Prozess vom Therapeuten steuern lassen, denn der Therapeut ist der Experte für den Klärungsprozess. Der Klient muss die Interventionen des Therapeuten umsetzen, also den jeweiligen „Bearbeitungsangeboten“ des Therapeuten folgen.
Der Klient muss Schemata aktivieren: Nur aktivierte Schemata lassen sich klären und bearbeiten. Also muss der Klient im Klärungsprozess bereit und in der Lage sein, relevante Schemata zu aktivieren.
Ein Klärungsprozess setzt auch voraus, dass der Klient bereit ist, sich zu öffnen: Er muss dem Therapeuten unangenehme Inhalte mitteilen, sich „in die Karten gucken lassen“, denn nur so kann der Therapeut verstehen, welche Prozesse beim Klienten ablaufen und nur so kann der Therapeut relevante Fragestellungen entwickeln. Diese Voraussetzung wird in der Regel durch das Schaffen einer vertrauensvollen Therapeut-Klient-Beziehung hergestellt (vgl. Sachse, 2006a).
Klärungsprozesse sind für Klienten schwierig: Daher muss ein Klient hinreichend motiviert sein, sich diesen Prozessen zu stellen, Anstrengung aufzuwenden, um Inhalte zu klären, Frustrationen auf sich zu nehmen, wenn es nicht gleich gelingt, „am Ball zu bleiben“, es immer wieder zu versuchen. Daher ist es sehr wesentlich, dass Therapeuten den Klienten immer erneut zur Klärung motivieren und „die Annäherungstendenz des Klienten steigern“ (vgl. Sachse, 1992, 2003).
Der Klient muss die Inhalte, die er erkennt oder spürt, in Kognitionen und letztlich in Sprache umsetzen oder „übersetzen“ können, denn sonst kann er die relevanten Inhalte weder selbst verstehen, noch kann er sie dem Therapeuten mitteilen.
2.4.4 Aufgaben des Therapeuten im Klärungsprozess
Der Therapeut ist Experte für den Klärungsprozess: Dementsprechend muss der Therapeut diesen Prozess durch gezielte und konstruktive Interventionen in sehr hohem Maße steuern. Im Einzelnen muss der Therapeut Folgendes tun.
Der Therapeut muss dem Klienten Zutrauen vermitteln, dass der Klient sich unangenehmen Inhalten stellen, dass er „dem Drachen ins Auge schauen“ kann: Dass der Klient dies aushält, nicht von negativen Gefühlen „überschwemmt wird“, diese angemessen bearbeiten kann. Der Therapeut muss außerdem angemessen mit Vermeidung des Klienten umgehen können, den Klienten zu einem konstruktiven Bearbeitungsprozess zurückführen.
Der Therapeut muss durch die Schaffung einer vertrauensvollen Therapeut-Klient-Beziehung dafür sorgen, dass der Klient gute Bedingungen für eine Selbstöffnung vorfindet, dass er dem Therapeuten auch peinliche und unangenehme Inhalte mitteilt.
Ein Therapeut muss den Klienten immer und immer wieder dazu motivieren, sich mit problematischen Inhalten zu beschäftigen und diese zu klären: Er muss dem Klienten deutlich machen, dass dies die einzige Möglichkeit ist, das eigene Erleben und Handeln konstruktiv zu verändern und dass es sich dafür lohnt, auch Phasen der Therapie durchzustehen, in denen der Klient sich entmutigt, „von Problem erdrückt“ u.a. fühlt.
Der Therapeut muss die Aufmerksamkeit des Klienten in hohem Ausmaß steuern: Er muss mit Interventionen dafür sorgen, dass der Klient sich auf bestimmte Inhalte konzentriert (und andere ausblendet) und seine Aufmerksamkeit über längere Zeit auf bestimmte Aspekte fokussiert hält.
Der Therapeut muss die Perspektive des Klienten internalisieren und über lange Zeit internal halten: Durch Fragen, Verbalisierungen, Explikationen u.ä. lenkt der Therapeut die Perspektive des Klienten immer wieder auf Kognitionen, Affekte, Emotionen und/oder Handlungsimpulse.
Es ist im Wesentlichen der Therapeut, der Fragestellungen entwickelt, sie dem Klienten vorschlägt und der den Klienten durch entsprechende Interventionen an diesen Fragestellungen hält. Genau wie in der Wissenschaft, so sind auch im Klärungsprozess Fragestellungen der Motor des Klärungsprozesses: Sie strukturieren den Suchprozess, sie definieren, was man sucht, sie definieren, welche Spuren relevant sind und welchen man folgen sollte. Ohne Fragestellungen funktioniert kein Klärungsprozess.
In aller Regel sind Klienten aber nicht in der Lage, Fragestellungen zu entwickeln und wenn doch, dann verfolgen sie sie nicht gradlinig und konsequent. Daher muss der Therapeut diese Aufgaben übernehmen.
Der Therapeut muss Interventionen so gestalten, dass der Klient sie verstehen, befolgen kann und dass der Klient sie als sinnvoll erleben kann, sodass er motiviert ist, sie umzusetzen. Manchmal sollten Therapeuten erläutern, warum sie etwas fragen oder warum der Klient einer Intervention folgen sollte, um die Compliance des Klienten zu erhöhen.
Therapeuten sollten Interventionen realisieren, die in der Lage sind, relevante Schemata beim Klienten zu aktivieren. Die Aktivierung kognitiver Schema-Anteile zeigt sich dabei darin, dass dem Klienten „automatische Gedanken“ durch den Kopf gehen; die Aktivierung affektiver Schema-Anteile zeigt sich im Entstehen von Affekten oder Emotionen. Therapeuten müssen sich klar darüber sein, dass sie Schemata nur dann valide klären können, wenn sie die Schemata auch aktivieren können. Ansonsten haben die Klienten ja gar keinen Zugang zu ihrem Schema und dann neigen sie dazu, über Schema-Inhalte zu spekulieren. Was dabei herauskommt, ist aber eine vollkommen invalide Theorie über die Schemata, etwas was Sache und Maus (1991) eine „Intellektualisierung“ genannt haben.
Der Therapeut muss dem Klienten aktiv dabei helfen, Inhalte, die er erkennt, Schema- Aspekte, auf die er stößt, in Sprache zu übersetzen. Dazu dienen sog. Explizierungen: Dabei versteht der Therapeut aufgrund seines Wissens und seines Klienten-Modells, was ein Klient jeweils meint, selbst wenn es dem Klienten im Augenblick nicht angemessen gelingt, das Gemeinte in Worte zu fassen. Da der Therapeut das Gemeinte aber (belegbar und nicht aufgrund von Spekulationen!!!) versteht, kann er dies stellvertretend für den Klienten in
Worte fassen. Fühlt der Klient sich vom Therapeuten dabei verstanden, ist das dadurch initiierte Erkenntnisniveau äquivalent mit dem Niveau, das man (mit sehr viel mehr Mühe und viel mehr Zeit) erreicht hätte, wäre der Klient „von selbst“ darauf gekommen.
Explizierungen helfen damit dem Klienten in sehr hohem Maße, Schema-Elemente, die der Klient noch nicht klar benennen kann, effektiv zu verstehen und zu kommunizieren: Explizierungen erzeugen damit im Therapieprozess einen „qualitativen Sprung nach vorne“.
2.4.5 Klärung zur Beseitigung von Alienation
Ziel der Therapie ist es neben einer Bearbeitung dysfunktionaler Schemata auch, Alienationen, Inkongruenzen und internale Konflikte zu beseitigen. Klienten können oft ihre Motive, Ziele, Wünsche nicht repräsentieren und „leben damit an diesen vorbei“, wobei sie eine Alienation (Entfremdung vom eigenen Motivsystem) erzeugen (vgl. Kuhl & Beckmann, 1994), wodurch massive Unzufriedenheiten und Symptomentwicklungen entstehen (vgl. Brunstein, 1993; Brunstein et al., 1995; Püschel, Michalak & Schulte, in prep.). Siehe zum genaueren Verständnis der Alienationsproblematik auch Beckmann (2006).
Klienten können auch massive Konflikte zwischen Motiven und Schemata aufweisen, die nicht bearbeitet sind und z.T. wegen mangelnder Repräsentation auch nicht bearbeitet werden können: Auch hier ist das zentrale Ziel die Bearbeitung und Reduktion der Konflikte und die Herstellung von Kongruenzen im System der Motive und Schemata (vgl. Grawe, 1988, 1992, 1995, 1998).
2.5 Klärungsorientierte Psychotherapie ist ein Expertise-System und ein System für Experten!
Die Forschung (siehe Kapitel 13 in diesem Band) zeigt, dass Therapeuten den Klärungs- und Bearbeitungsprozess in sehr hohem Ausmaß steuern und dass sie ihn in sehr hohem und sehr konstruktivem Ausmaß steuern müssen, damit Klienten in Klärungsprozessen effektiv sind. Empirische wie theoretische Analysen zeigen aber auch, wie komplex die vom Therapeuten auszuführenden Verarbeitungs- und Handlungsprozesse sind, die nötig sind, damit Klienten wirklich konstruktiv gefördert werden (vgl. Kapitel 13 in diesem Band).
Daraus ergibt sich: Therapeuten müssen, um KOP effektiv umsetzen zu können, einen hohen Stand an Verarbeitungs- und Handlungskompetenzen aufweisen, d.h. sie müssen Experten sein. Dabei sind sie Prozessexperten, d.h. sie sind Experten für die Anregung und Steuerung von Klärungs- und Bearbeitungsprozessen bei Klienten (Sachse, 2006i).
Als Prozessexperte hat der Therapeut eine Reihe von Aufgaben:
- Er muss aufgrund dieser Information auf der Basis seines Wissens ein
Klienten-Modell bilden, es prüfen, elaborieren und fortlaufend anpassen.
- Er muss kontinuierlich die vom Klienten einlaufende Information auf der Basis
seines Wissens und seines Klienten-Modells verarbeiten.
- Er muss Informationen auf Inhaltsebene, Bearbeitungsebene und
Beziehungsebene verarbeiten und integrieren.
- Er muss in der Lage sein, hoch komplexe Verarbeitungsprozesse in
Realzeit durchzuführen.
- Er muss auf der Basis seines Klienten-Modells und seines
Interventionswissens langfristige, mittel- und kurzfristige Ziele für den
Klienten-Prozess entwickeln.
- Er muss Strategien und Interventionen entwickeln, die in der Lage sind,
vom jeweiligen Ausgangszustand des Klienten aus die Ziele zu erreichen.
- Er muss Interventionen so realisieren, dass sie vom Klienten verstanden
und umgesetzt werden können.
- Er muss die Wirkungen seiner Interventionen abschätzen und flexibel auf
das Klienten- Handeln reagieren können.
Klärungsorientierte Psychotherapie ist ein System, das eine sehr hohe Expertise im Hinblick auf Klärungs-, Bearbeitungs- und Veränderungsprozesse von Schemata definiert. Es definiert therapeutische Regeln und Strategien, mit deren Hilfe Therapeuten in der Lage sind, die relevanten Klienten-Prozesse sehr gut und sehr konstruktiv zu steuern.
Deutlich wird aber auch: Das System der KOP ist hoch komplex: Therapeuten müssen in der Lage sein, sehr schnell und sehr effektiv Informationen zu verarbeiten, sie müssen mit hoch komplexen Regeln umgehen können, sie müssen über die Fähigkeit eines multi-tasking verfügen. D.h. aber: Therapeuten, die KOP effektiv umsetzen wollen, müssen einen hohen Expertise- Status aufweisen! Und das bedeutet auch, dass Therapeuten sehr gut in Informationsverarbeitung, Modellbildung, Handlungsplanung und Interventionsbildung trainiert werden müssen, bevor sie das System der KOP effektiv anwenden können! Klärungsorientierte Psychotherapeuten sind Prozessexperten: Sie sind Experten dafür, den Klienten aktiv durch Interventionen und Strategien in der Klärung und Bearbeitung zentraler dysfunktionaler Schemata zu unterstützen. Damit weisen Therapeuten in der KOP eine sehr hohe Expertise auf und werden daraufhin auch systematisch ausgebildet (Sachse, 2006i).
2.6 Charakteristika der Klärungsorientierten Psychotherapie
Klärungsorientierte Psychotherapie (KOP) weist einige Charakteristika auf, die diese Therapieform zentral kennzeichnen und die sie deutlich von anderen Therapieformen unterscheidet.
2.6.1 Fundierung in der Psychologie
Klärungsorientierte Psychotherapie ist sehr stark in der Psychologie verankert (vgl. Sachse, 1992): In der Emotions- und Motivationspsychologie (vgl. Kuhl, 2001), in der Kognitionspsychologie (vgl. Dalgleish & Power, 1999), in der Sprach- und Wissenspsychologie (vgl. Herrmann, 1982, 1984; Herrmann & Grabowski, 1994; Hörmann, 1976). Damit ist KOP auch keineswegs ausschließlich, ja nicht einmal überwiegend in der Lernpsychologie verankert, denn schematheoretische Überlegungen, Konzepte der Alienation, der affektiven Verarbeitungsprozesse, der Repräsentation, der Selbstregulation, sind von zentralerer Bedeutung als einfache Lernprozesse. Alle diese Prozesse sind jedoch heute in der wissenschaftlichen Psychologie sehr gut konzipiert und empirisch abgesichert, sodass KOP in sehr hohem Maße in der wissenschaftlichen Psychologie verankert ist.
2.6.2 Empirische Fundierung
KOP ist empirisch sehr gut fundiert, insbesondere die therapeutischen Regeln auf einer Mikro-Ebene von Psychotherapie sind extrem gut empirisch begründet (vgl. Sachse, 1992, 2004c, Kapitel 13 in diesem Band; Sachse & Elliott, 2002). Außerdem hat sich KOP bei verschiedenen Störungen als effektiv erwiesen, z.B. Psychosomatik (Sachse, 1999a).
2.6.3 Beziehungsorientierung
KOP ist stark auf die Beziehungsgestaltung zum Klienten konzentriert (Sachse, 2006a): Therapeuten gestalten die Beziehung sehr aktiv und das nicht nur zu Beginn der Therapie, sondern durchweg. Sie ermöglichen dem Klienten durch eine hochgradig vertrauensvolle
Beziehung eine sehr weitgehende Selbstöffnung und damit eine Klärung und Bearbeitung hoch belastender, aversiver, auch peinlicher Schemata und damit die Bearbeitung sehr zentraler und existentieller Probleme.
2.6.4 Mikro-Ebene
KOP ist sehr stark an der Mikro-Ebene von Psychotherapie ausgerichtet (vgl. Sachse, 1992, 1996b, 1999c, 2003a; Sachse & Takens, 2003): Therapeuten entwickeln natürlich übergreifende Modelle vom Klienten und sie entwickeln mittel- und langfristige Ziele für den Therapie-Prozess; sie orientieren sich jedoch sehr stark daran,
- was der Klient jetzt aktuell im Fokus seiner Aufmerksamkeit hat und verankern
ihre Interventionen immer an den aktuellen Inhalten des Klienten;
- wie der Klient jetzt aktuell arbeitet und versuchen, die Bearbeitungsprozesse
des Klienten im nächsten Schritt zu verbessern;
- was der aktuelle Erkenntnisstand des Klienten ist und welche Erkenntnisse der
Klient von da aus als nächstes vollziehen kann;
- wie das aktuelle Vermeidungsniveau des Klienten ist und wo von dort an die
„Kante des Möglichen“ einer Bearbeitung ist;
- wie der aktuelle Stand des „Beziehungskredits“ des Therapeuten ist und
welche Konfrontationen sich der Therapeut deshalb aktuell erlauben kann.
Der zentrale Bearbeitungsfokus des Klienten ist damit das „Hier und Jetzt“ des Therapieprozesses: Die aktuelle Mikro-Ebene der Therapie, bestehend aus aktuellem Klienten-Stand (KL1), der jeweils aktuellen Intervention des Therapeuten (TI) und dem durch die Intervention angezielten nächsten Klienten-Stand (KL2): KL1 TI KL2
Der Therapeut fokalisiert seine Informationsverarbeitung deshalb auch in hohem Maße auf den aktuellen Prozessstand und entscheidet, welche Intervention hier und jetzt sinnvoll und zielführend ist: Natürlich immer eingebettet in sein übergreifendes Klienten-Modell und eingebettet in seine langfristigeren Prozessziele (Becker & Sachse, 1997).
2.6.5 Bearbeitung zentraler Probleme
Da in der KOP an zentralen Schemata zentraler Probleme gearbeitet wird und effektiv gearbeitet werden kann, werden auch relevante Lebensprobleme Thema der Therapie:
Wesentliche Konflikte von Personen, existentielle Fragen, Lebensziele, persönliche Krisen, zentrale Entscheidungen. In der KOP geht es um Probleme tiefer persönlicher Dimensionen, die Personen „im Kern“ existentiell betreffen und belasten. Klienten in der KOP klären und verändern zentrale Schemata und verändern damit tiefgreifend ihr Leben und ihre Lebensqualität.
2.6.6 Modellbildung
Ein Therapeut muss, von Beginn der Therapie an, ein Modell über den Klienten entwickeln, das als Basis seines Verstehens und als Basis seines Handelns dienen kann.
Das Klienten-Modell muss Angaben darüber enthalten,
- was die relevanten Probleme des Klienten sind,
- was der jeweilige Erkenntnisstand über die Klärung (oder Bearbeitung) der
den Problemen zugrunde liegenden Schemata ist,
- welchen Fragestellungen man nun folgen sollte, um den Klärungsstand
zu verbessern,
- welche langfristigen, mittel- und kurzfristigen Ziele angestrebt werden können
und sollen,
- wie der Klient die Beziehung zum Therapeuten gestaltet,
- wie der Klient auf die Beziehungsgestaltung durch den Therapeuten reagiert,
- wie der Klient seine Probleme bearbeitet,
- wie der Klient auf die Bearbeitungsangebote des Therapeuten reagiert.
Therapeuten müssen die entsprechenden Fertigkeiten so gelernt haben, dass sie sie sicher und schnell in Handlung umsetzen können: Therapeuten können kein „Manual abarbeiten“ und es reicht auch keineswegs, die Prinzipien theoretisch zu kennen.
In der KOP orientiert sich ein Therapeut bei seiner Modellbildung zwar an Theorien der Psychologie und der Psychotherapie sowie an Heuristiken, die es dem Therapeuten gestatten, spezifisch nach Informationen zu suchen. Dennoch bildet der Therapeut in jedem Einzelfall ein hochgradig klientenzentriertes, hochgradig idiosynkratisches Modell über diesen speziellen Klienten (Sachse, 1986, 1992, 1996a, 2003).
Der Therapeut geht zwar davon aus, dass dysfunktionale Schemata immer eine bestimmte Struktur aufweisen und dass bestimmte Motive mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit beteiligt sind (Sachse, 2003, 2005b); aber was genau in den jeweiligen Schemata des jeweiligen Klienten genau steht, kann der Therapeut nur im jeweiligen Klärungsprozess mit dem Klienten bestimmen! Die Struktur und die groben, allgemeinen Inhalte von Schemata sind
wahrscheinlich generell und sie lassen sich auch vorhersagen, sodass es möglich ist, aus der Theorie allgemeine Suchheuristiken für Therapeuten abzuleiten; was aber die Schemata des jeweiligen Klienten genau sind, was genau in den jeweils relevanten Schemata steht, das ist hochgradig idiosynkratisch und kann daher immer nur durch den individuellen Klärungsprozess determiniert werden! Daher muss sich der Therapeut ein Modell über den jeweils spezifischen Klienten machen und er muss die Veränderungen der Schemata auch hoch individuell an den jeweiligen Schemata des Klienten ansetzen!
KOP impliziert deshalb eine Kombination aus allgemeinem, theoriegeleitetem und
idiosynkratischem Vorgehen. Therapeuten in der KOP sind Prozessexperten: Sie sind Experten dafür, den Klienten aktiv durch Interventionen und Strategien in der Klärung und Bearbeitung zentraler dysfunktionaler Schemata zu unterstützen. Damit weisen Therapeuten in der KOP eine sehr hohe Expertise auf und werden auch daraufhin systematisch ausgebildet (Sachse, 2006i).
2.6.7 Rekursiver Therapieprozess
Der therapeutische Klärungsprozess wird nicht als ein linearer, planbarer oder vorausbestimmbarer Prozess betrachtet, sondern vielmehr als ein rekursiver, von heuristischen Regeln bestimmter Prozess, der immer wieder vom Therapeuten neu rekonstruiert und gesteuert werden muss (vgl. Grawe, 1988b, 1998). Welche Schemata beim Klienten wann und wodurch aktiviert werden, zugänglich und bearbeitbar werden, welche Informationen ein Klient wann bereit ist, dem Therapeuten zu geben, das alles kann zwar durch therapeutische Interventionen beeinflusst, jedoch nicht sicher vorhergesagt werden. Therapeuten müssen daher flexibel handeln können und können auch Therapien nie sicher langfristig planen. Folgt ein Therapeut dann jedoch einer „Klärungsspur“, dann sollte er diese auch (eine ganze Zeit lang) konsequent verfolgen.
2.6.8 Störungsspezifität
Klärungsorientierte Psychotherapie ist hochgradig störungsspezifisch: Es wird davon ausgegangen, dass Klienten mit unterschiedlichen psychischen Störungen unterschiedliche psychologische „Funktionsweisen“ und unterschiedliche therapeutische Eingangsvoraussetzungen aufweisen, sodass der Therapeut sich in der Beziehungsgestaltung, in der Anregung von Klärungsprozessen und der Integration von Schemata hochgradig an die Klienten anpassen muss. Für eine Vielzahl psychischer Störungen sind in der Klärungsorientierten Psychotherapie bereits störungsspezifische Therapiekonzepte entwickelt worden, z.B. für psychosomatische Störungen, Persönlichkeitsstörungen, Ängste, Depressionen, Abhängigkeitserkrankungen (vgl. Sachse, 1995a, 2000a, 2004a, 2004b; Sachse et al., 2002).
2.6.9 Menschenbild
Das Menschenbild der KOP geht davon aus, dass Menschen selbstorganisierende, autonome Personen sind, die Entscheidungen treffen und treffen können sollten, die auf ihren Motiven basieren und die in der Lage sein sollten, ihre Ziele anzustreben, ohne dabei wesentlich von kostenintensiven, dysfunktionalen Schemata gestört zu werden. Werden sie durch dysfunktionale Schemata beeinträchtigt oder haben sie keinen Zugang zu ihren Motiven, dann ist ihre Selbstregulation entscheidend gestört. Ziel der KOP ist es damit, die Selbstregulation der Personen wiederherzustellen und damit Kosten zu reduzieren und „Symptome“ abzubauen. Das Ziel der Therapie ist damit sekundär schon, Symptome zum Verschwinden zu bringen, primär ist es jedoch, die Selbstregulation zu stärken, Klienten damit zu emanzipieren, sie aber auch in die Lage zu versetzen, sich anzupassen, soweit sie dies wollen und es ihren Zielen dient, ihnen also die Möglichkeit zu geben, die Balance zwischen „sozial sein“ und „autonom sein“ zu finden. Die KOP resultiert sicher in einer deutlichen Reduktion von „Symptomen“ aber das ist die Folge, nicht das Ziel des Vorgehens. Wir möchten, außer unter kassenrechtlicher Perspektive, bei der das bedauerlicherweise die Vorgabe des Gesetzgebers ist, psychische Probleme auch nicht als „Krankheiten“ bezeichnen: Denn es sind keine „Krankheiten“, denen ein „Patient“ passiv ausgeliefert ist, sondern es sind psychische Probleme, die psychologisch funktionieren und die „Klienten“ mit Hilfe von Psychotherapie aktiv angehen können: Diese Probleme sind weder „medizinisch“, noch „krank“, noch sind Personen ihnen „unterworfen“, noch sind sie passiv: Die medizinische Begrifflichkeit ist im Grunde hochgradig unangemessen. Wir halten es vielmehr für angemessen, eine genuin psychologische Begrifflichkeit zu entwickeln und zu versuchen, diese auch durchzusetzen. Man muss sich darüber im Klaren sein, dass die Definition als Krankheit unter Krankenkassen-Perspektive eine rein rechtliche Definition ist und uns unter psychologischer Perspektive nicht zwingt, juristische Termini in unser Fach aufzunehmen und uns theoretisch juristischen Vorstellungen anzupassen; vielmehr sollten wir darauf hinwirken, dass die Juristen sich einer psychotherapeutischen Perspektive (langfristig) anpassen. Da in der KOP psychische Störungen nicht als „pathologisch“ aufgefasst werden, werden die Ratsuchenden auch als „Klienten“ und nicht als „Patienten“ bezeichnet; sie werden auch nicht als „pathologisch“, „krank“ betrachtet oder als Personen, die man abwerten, bevormunden, „be-handeln“ muss, sondern als Klienten, die einen Experten aufsuchen, der die Klienten respektvoll behandelt, aber der auch gezielt seine Expertise zur Verfügung stellt, um den Klienten bei der Lösung von Problemen zu helfen. Der Therapeut hat damit die Funktion und die Rolle eines Experten, der, gemeinsam mit dem Klienten, an der Analyse und Lösung von Problemen arbeitet. Er ist weder „Bevormunder“, „Be-werter“, noch ist er „Retter“, „Erlöser“ oder „Heiler“; er ist aber auch nicht bloß ein „guter Mensch“ oder eine „Person im Kontakt mit einer anderen Person“. Therapeut und Klient bilden ein Team, ein Team, das eng zusammenarbeitet und in dem jeder der Beteiligten eine spezifische Expertise einbringt. Der Therapeut ist Experte für den Prozess, dafür, wie man Probleme analysiert und wie man sie angehen kann, dafür, wie man konstruktive Prozesse beim Klienten anregt und steuert. Der Klient ist Experte für seine Inhalte, dafür, diese Inhalte mit Hilfe des Therapeuten zu klären, Entscheidungen zu treffen und Veränderungen in seinem Leben zu initiieren. Diese beiden Experten stehen in einem kontinuierlichen Austausch-Prozess und müssen Konsens darüber finden, was man bearbeiten will, welche Ziele man verfolgen will und mit welchen Mitteln man sie verfolgen will. Dabei „berät“ der Therapeut den Klienten darüber, durch welche psychologischen Maßnahmen man welche Probleme lösen und welche Ziele erreichen kann (und welche nicht); der Klient aber entscheidet, ob er den Angeboten des Therapeuten folgen will, ob er sich auf Prozesse einlassen will oder nicht. Der Therapeut „beeinflusst“ also immer offen und transparent und er kann immer nur dann beeinflussen, wenn der Klient das zulässt.
2.7 Unterschiede Klärungsorientierter Psychotherapie zu anderen Therapieformen
2.7.1 Klassische Verhaltenstherapie
Von „Klassischer“ Verhaltenstherapie unterscheidet sich KOP in hohem Maße (Sachse, 1990, 1994a; Sachse & Takens, 2003):
- In der KOP spielen „Situationen“ nur als Auslöser, als „Trigger“
relevanter, dysfunktionaler Schemata eine Rolle.
- Verstanden und analysiert werden dagegen vor allem aktuell ablaufende, durch
die Aktualisierung von Schemata zustande gekommene Verarbeitungsprozesse,
also internale Prozesse wie Kognitionen, Affekte, Emotionen und
Handlungsimpulse und von dort aus die relevanten Schemata selbst.
- Verändert werden auch Schemata, nicht Verhalten direkt.
- KOP verfolgt keinen linearen Erklärungsansatz wie S-R-C, sondern einen
system- theoretischen Ansatz, in dem psychologische Variablen in komplexer
Weise interagieren und in dem zentrale Systemvariablen verändert werden
müssen, um periphere Variablen (wie z.B. „Symptome“) zu verändern.
- KOP fokalisiert die Expertise im Therapeuten, nicht in Manualen;
der Therapieprozess wird als rekursiv, nicht als linear aufgefasst; Planung in der
KOP ist nur begrenzt möglich, der Therapeut muss Fragestellungen zwar #
„straight“ verfolgen, auf der Mikro- Ebene jedoch hoch flexibel reagieren können.
- Diagnostik ist in der KOP ein komplexer Vorgang, bei dem es vor allem um
das Verstehen psychologischer Zusammenhänge und nicht von
(DSM-) Oberflächenmerkmalen geht; die Indikation wird auch aufgrund von Störungstheorie und Klienten-Modell, nicht aufgrund von DSM-Diagnosen gestellt
(vgl. Sachse, 2006g, 2006h).
- Therapeutische Ziele entwickeln sich im Therapieprozess, wenn Therapeuten aufgrund der sich entwickelnden Therapeut-Klient-Beziehung und der
sich verbessernden Bearbeitung valide Informationen über Probleme
und Schemata des Klienten erhalten; Ziele können meist nicht zu
Therapiebeginn festgesetzt werden (vgl. Püschel, 2006; Sachse, 2006g,
2006h). Insgesamt stehen die KOP und die Verhaltenstherapie gerade
wegen dieser Unterschiede in einem Ergänzungsverhältnis. Nach
einer erfolgreichen Schemabearbeitung geht es auch in der KOP um einen Transfer in den Alltag des Klienten und um eine Veränderung von
Verhaltensweisen. An dieser Stelle können
verhaltenstherapeutische Veränderungstechniken und Trainingsmethoden
eingesetzt werden, um den Klienten zu unterstützen.
2.7.2 Kognitive Therapie
KOP integriert sowohl in der Theorie viele Aspekte Kognitiver Therapie (KT), als auch in der Praxis, vor allem bei der Bearbeitung von Schemata (Sachse, 1992a, 2003). Dennoch unterscheidet sich KOP auch deutlich von KT (vgl. auch das Kapitel von Hammelstein in diesem Band).
- KOP integriert in der Theorie auch viele Aspekte von Emotions-
und Motivationstheorie: Der theoretische Hintergrund von KOP ist
damit deutlich breiter als der von KT.
- Damit geht KOP auch davon aus, dass dysfunktionale Schemata von Klienten
zwar kognitive Anteile aufweisen, darüber hinaus aber in aller Regel auch
hohe affektive Anteile.
- Damit weisen auch die auf die Aktualisierung von Schemata
zurückgehenden aktuellen Verarbeitungsprozesse nicht nur
Kognitionen („automatische Gedanken“) auf, sondern in hohem Maße
Affekte, Emotionen, Handlungsimpulse.
- In der KOP wird angenommen, dass es affektive Verarbeitungen gibt, die nicht
„post- kognitiv“ sind, sondern aus einem parallelen Verarbeitungssystem resultieren.
- Daher werden in der KOP sowohl bei Klärungsprozessen als auch bei
der Veränderung von Schemata neben kognitiven in hohem Maße auch
affektive Prozesse berücksichtigt.
- KOP entwickelt damit spezielle therapeutische Strategien der Motivierung
von Klienten und der „affektiven Umstrukturierung“.
2.7.3 Gesprächspsychotherapie
Mit der Gesprächspsychotherapie (GT) hat KOP die allgemeine Beziehungsgestaltung gemeinsam sowie eine generelle Klientenzentrierung. Dennoch gibt es gravierende Unterschiede (Sachse, 1999c, 2005b, 2005c):
- KOP ist in hohem Maße prozessdirektiv und keineswegs „nondirektiv“.
Therapeuten verstehen sich als Prozessexperten, die die Klienten-Prozesse in
sehr hohem Maße steuern.
- KOP ist auf Klärung konzentriert; Beziehungsgestaltung ist kein Selbstzweck oder
gar der zentrale Motor der Therapie, sondern dient im Wesentlichen dazu,
effektive Klärungsprozesse zu ermöglichen.
- KOP ist idiosynkratisch und theoriegeleitet und Therapeuten bilden Modelle über
ihre Klienten; „Verstehen“ ist wichtig, weil es die Grundlage effektiver Modellbildung
der Therapeuten ist (Sachse, 1988, 1989, 1993, 1996c).
- KOP geht davon aus, dass weder Beziehung noch Klärung allein in
der Regel ausreichen, um effektiv eine Therapie zu ermöglichen: Neben
effektiver Beziehungsgestaltung und effektiver Klärung müssen Therapeuten
auch gezielt an der Veränderung dysfunktionaler Schemata arbeiten.
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